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Montag, 19. Februar 2024

Hotel du Lac – Anita Brookner

 

Auf dieses Buch bin ich beim Lesen von «Allein» von Daniel Schreiber gestossen. Dort beschreibt er, wie er von einem Hotel in Luzern auf eine dreiwöchige Literatur-Residenz eingeladen wurde, auf die er eigentlich keine Lust darauf hatte, dann aber schlussendlich doch das Angebot annahm – nicht zuletzt, da er kurz zuvor «Hotel du Lac» gelesen hat und davon fasziniert war.

 

Mir ist es da ganz ähnlich gegangen. Die Art wie Brookner kleine, einzelne Details einer Szene beschreibt, welche dann stellvertretend für die gesamte Szene das Gefühl der Menschen dahinter plastisch und erfahrbar wiedergibt, hat mir sehr gut gefallen. Kurz gesagt, es war eine Freude das Buch, allein vom Schreibstil her, zu lesen. Aber nun zum Inhalt.

 

Edith Johanna Hope ist in ihren Vierzigern und wohnt in London. Dort schreibt sie unter dem Pseudonym Vanessa Wilde romantische Unterhaltungsliteratur. Von ihrem Freundeskreis wird sie als introvertiert und eher unscheinbar wahrgenommen, ja sogar stellenweise etwas belächelt. Umso höher schlagen die Wellen, als sie sich einen unentschuldbaren faux pas erlaubt, worauf ihr Zwangsferien nahelegt werden, bis wieder Normalität einziehen könne. Um was es sich bei diesem faux pas handelte, erfährt man aber erst Anfang des letzten Viertels des Romans (S.150 in meiner Ausgabe) und so begleitet der Leser Edith ins Hotel du Lac, einem etwas verstaubt antiquierten Hotel am Genfer See, welches «…der Tradition verhaftet, als seine Gäste die Vorsichtigen, Wohlhabenden, Diskreten, Zurückgezogenen, die geachteten Kunden einer früheren Ära des Tourismus willkommen hiess.». Und in der Tat 

Fühlte ich mich durch die Beschreibung der Charaktere oftmals eher in einem Roman von Thomas Mann als in einem Hotel der frühen 1980er Jahre, was eine sonderbare, interessante Stimmung erzeugte. 

 

Im Hotel residieren nur wenige Gäste. Da ist die würdevolle und elegante Mme de Bonneuil, eine ältere, vom Schicksal des Lebens gezeichnete Dame, die Edith wohlwollend unterstützt und sie ermutigt eigene Entscheidungen zu treffen. Monica (mit ihrem Hündchen Kiki) ist eine, auf den ersten Blick selbstbewusste und extrovertierte Erscheinung, die ihren aristokratischen Charme jedoch wie einen schützenden Mantel um sich hüllt. Iris Pusey, in jeder Konstellation das selbstverständliche Zentrum der Aufmerksamkeit, ist mit ihrer Tochter Jennifer im Hotel du Lac. Und dann ist da noch Philip Neville. Ein Mann mittleren Alters, der sich charismatisch und selbstbewusst inmitten all der Frauen bewegt.

 

Feinfühlig und dezent entwickelt Brookner diese Charaktere durch die Augen Ediths. So nimmt diese zu Anfang nur deren zuweilen exzentrisches Verhalten wahr, welches sie – ganz Schriftstellerin – dazu anhält Lebensgeschichten für jeden auszudenken. Peu-à-peu ergeben sich aber immer tiefere Einblicke, die erahnen lassen, welchen Zweck das jeweilige Verhalten im Leben der Person einnimmt und welche Dynamik dadurch zwischen ihnen entsteht. Und während man die Hotelgäste immer etwas besser kennen lernt, so nähert man sich auch Edith und ihrem Wesen. Durch ihre Rückblicke und Briefe lernt man sie immer besser kennen, meint zu erahnen, welchen faux pas sie begangen hat. Eigentlich kennt man sie schon relativ gut, wenn man auf Seite 150 angelangt ist. Ab da ändert sich die Dynamik der Erzählung. Sie wird schneller, irgendwie prägnanter und man ist erstaunt, welche Schlussfolgerungen Edith aus ihren Erfahrungen zieht.


Viel mehr möchte ich eigentlich gar nicht erzählen, denn für mich war es ein Genuss sich in ganz kleinen Schritten den Charakteren zu nähern, sie immer etwas besser zu verstehen – In ihren Handlungen, in ihren Eigenheiten, in ihren Zwängen – in ihrem Leben. Und so rate ich auch dazu das Vorwort von Elke Heidenreich zu einem Nachwort zu machen. Ich bin jedenfalls froh um meine Ungeduld, welche mich gleich in den Roman hat springen lassen – Für mein Empfinden braucht dieser Roman kein Vorwort – Er steht wunderbar für sich alleine. alleine. alleine…

Freitag, 16. Februar 2024

Unsere Seelen bei Nacht – Kent Haruf

 

Auf dieses Buch bin ich ganz durch Zufall gestossen als ich in der Buchhandlung wieder mal nach neuen Inspirationen gesucht habe. Zuvor hatte ich noch nie etwas von Kent Haruf gelesen oder von ihm gehört aber der Umschlagtext hat mich einfach angesprochen. Und nun bin ich richtig froh, dass ich es mitgenommen habe, denn es war einfach ein Genuss das Buch zu lesen. Normalerweise mache ich beim Lesen immer wieder Pausen, denke über das Gelesene nach, streiche mir Passagen an und schreibe mir Gedanken zu diesen Passagen ins Buch. Bei diesem Buch war ich aber einfach im Lesefluss und wollte in jenem Fluss bleiben. 

 

Haruf schreibt in schnörkellosen geraden Sätzen, völlig unaufdringlich und doch so differenziert beschreibend. Seine Charaktere sind so gut greifbar. Einfach schön zu lesen. Ich habe mir bereits weitere Bücher von Haruf bestellt und freue mich schon drauf sie zu lesen. Aber nun zum Inhalt.

 

Addie Moore und Louis Waters sind Nachbarn in der kleinen amerikanischen Stadt Holt in Colorado. Beide sind vermutlich in ihren Sechzigern und haben ihre jeweiligen Partner bereits verloren. Viel über die normalen Nachbarschaftlichen Begegnungen hinaus scheinen sie in den letzten Jahren nicht miteinander zu tun gehabt zu haben. Umso erstaunlicher ist es, dass Addie Louis relativ unvermittelt vorschlägt bei ihr im Bett zu übernachten. Nichts Romantisches – Einfach zu zweit gegen die Einsamkeit. Louis willigt ein und so begibt er sich die folgenden Nächte, zuerst durch den Hintereingang, dann aber mit immer grösserer selbstverständlichkeit durch den Vordereingang zu Addie. Dies bleibt im kleinen Holt zwar nicht lange geheim aber nach anfänglichem Zögern scheinen Addie und Louis sogar Freude daran zu finden als unkonventionell angesehen zu werden, auch wenn sie im kleinbürgerlichen Holt damit nicht überall auf Verständnis stossen. Haruf beschreibt diese Nächte so zart, selbstverständlich und fern ab von jeder (sexuellen oder romantischen) Aufregung. Zwei Menschen, die auf viele Erfahrungen in ihrem Leben zurückblicken und denen dadurch umso klarer ist, was ihnen in ihrem Leben wichtig ist, wie sie es leben wollen. Mit oder ohne Billigung der Gesellschaft.

 

Als Addies Sohn Gene und seine Frau sich trennen, kommt Addies Enkel Jamie über die Ferien zu Addie nach Holt. Wie auch Gene von den Ereignissen seiner Vergangenheit geprägt wurde, leidet auch Jamie unter den Konflikten zwischen Gene und seiner Frau. So dauert es, bis Jamie sich öffnet. Er findet jedoch mit Addie und Louis den Halt, die Sensibilität, die Stabilität und die Liebe, die ihm so gut tut. Doch dann machen Gene und seine Frau einen neuen Anlauf ihre Beziehung zu kitten und holen Jamie wieder zu sich. Als Gene ihn abholt ist dies der Anfang vom Ende des Lebens, wie Addie und Louis es sich aufgebaut haben. Beide erleiden einen (unterschiedlichen) Verlust, an dem man auch zerbrechen könnte und während der Leser noch dem Verlust nachtrauert haben Addie und Louis sich bereits in der neuen Situation zurechtgefunden. Sie leiden zwar auch auf ihre Art, aber ohne jede Dramatik und ohne jegliches existentialistische Moment. Das Leben scheint ihnen viel zu kostbar als es damit zu verschwenden, um es selbst zu trauern.

 

Dies hat mich während den letzten Zeilen an ein Zitat aus «Il Gattopardo» von Giuseppe Tomasi di Lampedusa erinnert:

 

«Wenn wir wollen, daß alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern

 

Kein einfaches Unterfangen, neigen wir doch dazu das Gute konservieren und erhalten zu wollen, auf dass es uns möglichst auf alle Zeit hinaus Sicherheit und Geborgenheit garantieren soll.

Sonntag, 28. Januar 2024

Daheim - Judith Hermann

 

In «Daheim» begleitet der Leser die namenslose, 47 Jahre alte Protagonistin auf ihrem Weg aus ihrem alten Leben in ein Neues. Der Roman beginnt auf den ersten 25 Seiten mit einem Rückblick in ihre späten Jugendjahre (sie war damals 17), wechselt danach aber schnell in die Gegenwart und erzählt in der Folge mehr und mehr aus ihrem Leben dazwischen. Wie sie ihren Mann kennen lerne. Wie ihre gemeinsame Tochter gross wurde. Wie ihr Mann und sie sich trennten. Nun lebt sie in einem Haus am Meer und obwohl sie bereits einen Winter dort lebte, ist sie noch nicht angekommen.

 

Dabei empfand ich die Sprache auf den ersten 25 Seiten ganz anders – vielleicht erzählerischer – als die der Folgenden. Die Sprache über nahezu den Rest des Buches ist karger, lakonischer und wirkt irgendwie verschwommener. Erst auf den letzten 30-40 Seiten gewinnt sie den erzählerischen Stil zurück. Was daran liegen mag, dass man auch inhaltlich merkt, dass die Protagonistin so langsam in ihrem neuen Leben angekommen ist. 

 

Der Hauptteil des Buches widmet sich aber dieser (verschwommenen) Übergangsphase, in welcher der Leser die Protagonistin stück für stück, über die verschiedenen Phasen ihres Lebens besser kennenlernt. Sie bleibt, für den Leser und vielleicht auch für sich selbst, schlecht greifbar.

 

«Ich sage ihm, dass es keine Bedeutung hat. Dass es nur gibt, was Du gerade erlebst, und jede Erklärung, die du dafür hast, ist ausgedacht und existiert erst, wenn du sie formulierst. Ihr denkt, ihr hättet eine Bibliothek in euch, eine Sammlung, Bilder und Erinnerungen, die euch zu dem machen, was ihr seid. Gründe für das, was ihr mögt und nicht mögt. Aber diese Bibliothek ist eine Erfindung.»

«[…] du denkst, dass das Unbewusste klar werden kann. Als wäre es eine Höhle, in der das Licht angeht. Und diese Höhle gibt es eben nicht.»

 

Dieses Zitat beschreibt für mich einerseits den Prozess, in welchem der Leser die Protagonistin kennenlernt, bzw. etwas über sie erfährt, denn das Gefühl sie zu kennen hat sich bei mir nie eingestellt. Andererseits erinnert es mich an einige Texte aus der Philosophie des Geistes (z.B. hier), welche ich vor nicht allzu langer Zeit gelesen habe – Aber das wäre wohl ein ganz eigener Blog-Eintrag.

 

Nun, da ich das Buch vom Schluss her betrachte, blicke ich ganz anders auf das Buch als während des Lesens. Denn dort hat mich diese lakonische und karge Schreibweise, welche sich über lange Passagen erstreckt, nicht wirklich mitnehmen können. Sie erinnerte mich stellenweise an Arto Paasilinna, mit dem ich auch nie wirklich warm geworden bin. Aber so unterschiedlich sind wohl die Vorlieben…

Sonntag, 21. Januar 2024

Ruhm - Daniel Kehlmann

 

Als ich das letzte Mal in der Buchhandlung nach neuen Büchern geschaut habe, ist mir auch dieses hier von Daniel Kehlmann in die Finger gekommen. Und da mir die «Vermessung der Welt» (von welchem ich aber keinen Blogeintrag habe) sehr gut gefallen hat, habe ich es mitgenommen. Erst jetzt, nachdem ich es gelesen habe und nun anfange den Blogeintrag zu schreiben ist mir aufgefallen, dass ich ja noch ein Buch von Kehlmann gelesen habe – Und zwar «Der fernste Ort». Und jetzt, da ich den Blogeintrag von «der fernste Ort» so lese und mich wieder langsam dran erinnere, habe ich das Gefühl, dass beide Bücher auch einiges gemeinsam haben. Aber nun zu diesem Buch…

 

Warum das Buch gerade «ruhm» heisst, war mir lange nicht ganz klar. Das viel prominentere Motiv wäre vermutlich das eines Doppellebens. Denn in den neun Geschichten, aus welchen das Buch besteht, ist das Thema Doppelleben omnipräsent. Sei das explizit in der Geschichte «Wie ich log und starb» in welcher der Protagonist sich einem Doppelleben zwischen seiner Frau Hannah und seiner Geliebten Luzia hingibt. Sei das in einer abgewandelten Form in «Stimmen», in welcher die Telefonnummer eines berühmten Schauspielers an jemanden weitergegeben wurde der, mit ähnlicher Stimme, von nun an das Leben des Schauspielers wie ein fremd gelebtes Leben lebt. Sei es die Geschichte «Der Ausweg» in welcher die Auswirkungen des fremd gelebten Lebens auf den berühmten Schauspieler klar werden. Sei es in «Rosalie geht sterben» in welcher die Grenzen zwischen dem Autor einer Geschichte und deren Protagonistin langsam verwaschen und beide innerhalb der Geschichte in einen direkten Dialog treten. Bis hin zu zwei Geschichten, welche zwar gleich heissen, wovon die erste aber von einem Autor erzählt, der sich durch Beobachtung Dinge aus dem Leben anderer aneignet und diese in seine Geschichten einbaut und eben die zweite eine solche Geschichte ist – Nur mit der Besonderheit, dass die Charaktere der zweiten Geschichte langsam anfangen zu verstehen, dass sie vom Autor geschaffen wurden und somit ihr aufgezwungenes doppeltes Leben realisieren.

 

Klingt kompliziert? Ist es eigentlich gar nicht. Während man zu Anfang die Geschichten noch als isolierte Kurzgeschichten liest, so begreift man doch relativ schnell, dass sie durch Charaktere, Ereignisse oder Gegenstände an so vielen Stellen zusammenhängen, so dass sich ein dichtes Netz aus Beziehungen ergibt. 

 

«Wir sind immer in Geschichten. Er zog an der Zigarette, der Glutpunkt leuchtete rot auf, dann senkte er sie und blies den Rauch in die warme Luft. Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiss nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fliessen alle ineinander. Nur in Büchern sind sie säuberlich getrennt.»


Und hier kommt dann vielleicht wieder der Titel ins Spiel, denn in allen Geschichten geht es um die Definitionshoheit des eigenen Lebens bzw. um die Macht über dasselbe. Und so ist es vielleicht tröstlich optimistisch, dass in der letzten Geschichte eine geborgte Romanfigur die Intentionen des Autors erkennt, ihn im Roman darauf anspricht und dieser sich kurz darauf unwiederbringlich aus der Geschichte schreibt.

Sonntag, 14. Januar 2024

Morgen und Abend - Jon Fosse

 

Als ich am Freitag in der Buchhandlung war, um nach neuen Büchern zu schauen, ist mir dieses Buch in die Hände gefallen und da ich bisher noch nichts von Fosse gelesen habe, habe ich es mal mitgenommen. Heute habe ich es bei strahlendem Sonnenschein im warmen Wintergarten dann gelesen. Und ich bin mir immer noch nicht schlüssig, wie ich es eigentlich finde.

 

Zu Anfang habe ich mich erst einmal an die Art des Schreibens gewöhnen müssen. Der Satzbau, die Kommasetzung und wie Wiederholungen einzelner Textfragmente, so wie sie sich vielleicht in den Gedanken der Protagonisten wiederholen hat das Lesen, speziell des ersten Kapitels, etwas mühsam gemacht. 

 

Im Buch von Fosse geht es um den Morgen und den Abend des Lebens. Und so beginnt es mit den Gedanken des Vaters, welchen der Leser folgt, während dieser die Geburt seines Sohnes Johannes in der Küche erwartet.

 

«Du bist Fischer, Du weisst, Frauen gehören nicht ins

Boot, nicht wahr?, sagt sie

Jau, sagt Olai

Und hier gilt dasselbe für Männer, du weisst, was 

sonst passiert?, sagt die Hebamme Anna

Es bringt Unglück, sagt Olai

Genau, Unglück, sagt die alte Anna»

 

Im zweiten Kapitel ist der Sohn, Johannes, dann selbst alt und der Leser merkt schnell, dass er sich im Prozess des Sterbens befindet und all die Gedanken, Gefühle, die Routine, welche sich jahrelang eingeprägt hat, vermutlich im Geiste des Versterbenden an ihm vorbeiziehen. Und eigentlich ist dies auch kein Spoiler, denn der Text lebt nicht davon, dass etwas zuerst nur leicht angedeutet und danach immer klarer wird – Also nicht von einer sich entwickelnden Spannung. Er ist vielmehr getragen von der Begleitung des Prozesses des Sterbenden, der zu Anfang noch ganz in seiner Routine des Lebens verhaftet ist und Schritt für Schritt Erfahrungen macht, welche ihn aus dieser heraustragen – Dinge, die in der Realität nicht möglich sind, die aber von Johannes dann doch wie normal angenommen werden, denn peu-à-peu schiebt sich die Erinnerung der Vergangenheit in den Vordergrund und fängt an diesen auszufüllen. 

 

«..denn heute ist alles anders als jemals zuvor, es muss etwas passiert sein, aber was kann es sein?, denkt Johannes und er versteht es einfach nicht, denn alles ist so wie immer, anders ist nur, dass er nicht mit seinem eigenen Boot rausfährt, sondern Peter getroffen hat und jetzt mit Peter rausfährt [Anm.: der Leser hat bereits viele Seiten zuvor erfahren, dass Peter ebenfalls vor geraumer Zeit gestorben ist], seine Krebsreusen einholen, und das hat es früher wohl auch schon gegeben, …»

 

Hier zeigt sich dann auch im Übrigen nochmals, der oben erwähnte eigenwillige Schreibstil. So verzichtet Fosse gänzlich auf Punkte im Text und erschafft damit eine Erzählung, welche zunehmend um jede weltliche Klarheit beraubt, meditativ dahinfliesst.

 

«..und Erna [Anm.: seine verstorbene Frau] und Johannes gehen die Strasse entlang und Johannes sieht das Aussenlicht und es leuchtet so heimelig über der Haustür und alles fühlt sich so gut und geborgen an wie früher so oft, jetzt ist alles, wie es sein soll, denkt Johannes, so soll es sein, so soll es sein bis in alle Zeit, denkt Johannes…»

 

So fliesst der Text voran, und ich habe mich ein paarmal dabei ertappt, dass ich an «Becks letzter Sommer» gedachte habe, welches ich gestern zu Ende gelesen habe und welches wohl immer noch in mir nachwirkt. Dort sagt der Fremde dem Protagonisten im Drogenrausch: «Also: Denken Sie immer daran: Es geht nur um Erinnerungen.». Und diese Erinnerungen, welche Johannes über sein Leben hinweg gesammelt hat fliessen nun peu-à-peu aus seiner Vergangenheit in genau diesen Moment des Gewahrwerdens ein – Der Moment, in welchem er stirbt.

 

Nur gegen Ende, im dritten Kapitel spürt man nochmals ein Aufbäumen als er Signe, seine jüngste Tochter, die bereits vermutet, dass er gestorben sein könnte, dabei beobachtet, wie sie voller Angst zu seinem Haus läuft und er schon nicht mehr mit ihr interagieren kann. Dort spürt man, dass er noch eine Verbindung ins Leben hat und auch diese noch ziehen lassen muss. Und so sagt Peter, der ebenfalls bereits gestorben ist und ihm beim Übertritt helfen und ihn begleiten soll:

 

«…Aber warum haben wir die Krebsreusen eingeholt?, fragt Johannes 

Du hast Dir ja das Leben abgewöhnen müssen, irgendetwas haben wir schon tun müssen, sagt Peter…»

 

Kurz darauf: 

 

«…Wohin fahren wir?, fragt Johannes

Nein du fragst, als ob du noch leben würdest, sagt Peter

Nirgendwohin?, sagt Johannes

Nein da, wo wir hinfahren, ist kein Ort und darum hat es auch keinen Namen, sagt Peter

Ist es gefährlich?, fragt Johannes

Gefährlich nicht, sagt Peter

Gefährlich ist ein Wort und da, wo wir hinfahren, gibt es keine Wörter, sagt Peter

Tut es weh?, fragt Johannes

Da, wo wir hinfahren, gibt es keine Körper, also kann auch nichts wehtun, sagt Peter

Aber die Seele, tut es in der Seele weh?, fragt Johannes

Es gibt kein Du und Ich, da, wo wir hinfahren, sagt Peter

Ist es gut, dort zu sein?, fragt Johannes

Es ist weder gut noch schlecht, aber gross und still…»

 

Eigentlich ein Typischer Dialog mit einem, wie es Jaspers mal genannt hat, aktiven Agnostiker. Und doch hat sich auf der vorletzten Seite dann noch dieser Satz eingeschlichen:

 

«Alles, was Du liebst, ist dort, alles, was Du nicht liebst, ist nicht dort, sagt Peter»

 

Becks letzter Sommer - Benedict Wells

 

Heute Nachmittag habe ich den Roman fertiggelesen und jetzt, gut nach Mitternacht sitze ich hier und schreibe die ersten Zeilen und der Roman wirkt immer noch in mir nach. Speziell die zweite Hälfte des Romans hat mich in seinen Bann gezogen. Aber vom Anfang an: 

 

Robert Beck ist mit Jahrgang ’62 im Roman 37 Jahre alt. Er ist Lehrer für Deutsch und Musik und wurde eigentlich nur Lehrer, weil sein Vater die Musikkarriere seines Sohnes als nicht solide genug erachtete. Dabei hat die Band von Beck es in den 80ern immerhin bis zur Vorband von New Order (Blue Monday weckt auch ganz viele Erinnerungen an meine Jugend – So gesehen hätte ich auch Schüler von Beck sein können) gebracht, bevor Beck sich mit dem Manager der Band anlegte. Nun ist er Lehrer und hat seine Träume gegen Sicherheit und Stagnation getauscht.

 

«Mir fiel immer auf, wie traurig diese Lehrer waren, wenn sie ehemalige Schüler trafen. Die waren frei, flügge, konnten die Welt bereisen und sich entfalten, während man als Lehrer zur Stagnation gezwungen und an seine Schule gekettet war wie ein Gefangener an seine Eisenkugel.» 

 

Im Herzen ist Beck aber immer Musiker geblieben und das bricht in ihm wieder durch als er den jungen Rauli Kantas, einen Lettischen Schüler in seiner Klasse, auf der Gitarre hört. Fortan ist er getrieben von der Idee Rauli ganz gross rauszubringen. Er würde die Songs für ihn schreiben und Rauli würde ein Star werden. Etwas, was dieser sich durchaus wünscht, denn auch in seinem Leben gibt es Dinge, denen er gerne entfliehen würde. Eine gute Chance die Gewohnheit der Sicherheit nicht aufgeben zu müssen und sich zugleich die verschütteten Träume von früher zu verwirklichen?

 

«Auch er [Beck] war selbst über seinen Wutausbruch überrascht. Doch er spürte, dass diese Releaseparty das Wichtigste in seinem Leben war, und das liess er sich von niemandem kaputt machen. Und Rauli liess er sich auch nicht kaputt machen.»  

 

Zu dieser Zeit lernt Beck auch Lara kennen. Lara ist jünger als er, hat sich gerade zuvor von ihrem Freund getrennt, mit dem sie eigentlich nur zusammen war, weil sie nicht allein sein kann – Und so ungleich die Beiden sind, so sehr scheinen sie sich auch zu ergänzen. Stellenweise hat mich Lara in ihrer Wirkung auf Beck sogar an Hermine aus dem Steppenwolf erinnert. Eine Parallele, welche mir später gegen Ende des Buches noch mal auffallen sollte.

 

«Aber ich liebe Dich! Sagte er, fast verwundert. Er begriff, dass er diesen Satz zum ersten Mal in seinem Leben ernst meinte. Lara strich ihm, bevor sie ging, noch einmal wie einem kleinen Jungen übers Gesicht, dann drehte sie ihm den Rücken zu. Ich weiss, sagte sie. Nur manchmal reicht das einfach nicht.»

 

Und dann gibt es da noch Charlie. Ein alter Freund von Beck, deren Beziehung sich erst über längere Strecken im Buch aufklärt. Sie erscheinen total unterschiedlich und dennoch hält sie ein starkes Band zusammen. So ist es dann auch Charlie, der Beck überzeugt ihn nach Istanbul zu fahren. Letztendlich brechen Beck, Rauli und Charlie zusammen auf eine Reise auf, welche fast im Stile eines Road Movie viele Erkenntnisse für die Protagonisten bereit stellt und ihrer aller Leben grundlegend verändern wird.

 

Der Roman selber ist wie einen Musikalbum gegliedert. Es gibt eine A-Seite, eine B-Seite und einen Bonus Track. In der A-Seite entwickelt sich in 4 Tracks die Geschichte um Beck, Rauli, Charlie und Lara. Nach ca. 250 Seiten fängt dann mit der Reise nach Istanbul auch die B-Seite an. Ab da konnte ich das Buch kaum mehr weglegen und strich mir immer mehr Stellen an. Entweder weil sie mich an etwas erinnerten oder mich einfach nur bewegten.

 

Auf der Reise nimmt Beck dann auch eine Black-Jua Pille, ein Halluzinogen, von seinem Freund Charlie (Jua bedeutet Sonne auf Suaheli). Was er daraufhin erlebt, hat mich dann stark an das magische Theater im Steppenwolf erinnert, denn auch dort waren es ja Drogen, welche Harry Haller in den Spiegel seiner Persönlichkeit haben blicken lassen. Hier lernt Beck den Fremden Robert Zimmermann kennen, mit dem er sich über sein Leben unterhält… oder war es doch Bob Dylan… oder gar nur ein Traum? Wie auch immer, hier zwei Zitate aus diesem Kapitel: 

 

«Ich fühle mich manchmal so leer, sagte Beck. Mir fehlt immer etwas. Wenn ich allein bin, fehlt mir was, wenn ich mit jemandem zusammen bin, fehlt mich auch was […] Ach. Unsinn. Jeder Mensch hat doch diese Leere in sich. Sie gehört doch zum Leben dazu. Vielleicht ist es manchmal nur laut genug, dass man sie vergisst, man ist verliebt oder im Stress, aber wenn es ruhig um einen wird, dann spürt man sie wieder.»

 

Dies hat mich übrigens an meine Gedanken zur Melancholie erinnert.

 

«Als Beck fertig war, sah ihn Zimmermann mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an. Robert, Robert, sie sind ja der glücklichste Mann der Welt. 

Ach, wieso? 

Weil sie lieben und geliebt werden.

Ich weiss nicht, ob das ausreicht, um der glücklichste Mann der Welt zu sein.

Ich habe ja auch nicht gesagt, dass sie der klügste Mann der Welt sind. Ihnen ist das Glück nämlich durchaus nicht klar […] Je näher man seinem Glück ist, desto schwieriger ist es zu kriegen oder auch nur zu begreifen.»

 

Und hier ist man natürlich schnell an das Dylan Zitat aus Vom Ende der Einsamkeit erinnert.

 

Im Auseinandergehen schliesst Robert Zimmermann noch mit dem Satz «Also: Denken Sie immer daran: Es geht nur um Erinnerungen.». Ein Thema, welches später wieder aufgegriffen werden wird. Ein Thema, welches ich vermutlich am ehesten Ergänzen würde mit: «…nicht um sie zu haben, sondern um sie gemacht zu haben…». Und damit bewegt man sich dann relativ nahe an Frankls Erlebens- und Einstellungswerten (hier mehr dazu).

 

Und dann ist da noch diese eine Stelle im letzten Kapitel, dem Bonus-Track, in welcher sich dann bei mir selbst Fiktion und Realität vermischen:

 

«Denn vor allem kann man ihm [dem Leben] fast nie lange böse sein. Manchmal, wenn die Dinge schlecht laufen – ich bin niedergeschlagen oder hoffnungslos -, gehe ich spazieren. Und dann, einfach so, scheint die Sonne durch die Bäume, wie damals, als ich ein kleines Kind war und mit meinen Eltern durch den Englischen Garten gegangen bin, ein Eis bekommen habe und mich so sicher wie danach nie mehr gefühlt habe. Ich erinnere mich also an damals, die Sonne scheint, es ist windig und wunderschön. Dann habe ich auf einmal wieder dieses längst vergessene Gefühl, es schaffen zu können. Mit diesem billigen Trick kriegt das Leben mich wieder rum.»


Und just in dem Moment, als ich diese Seite fertiggelesen habe, kommt unsere jüngere Tochter (8) in den Wintergarten zu mir und kuschelt sich an mich unter die warme Decke. Ich lege das Buch weg und wir unterhalten uns. Sie spricht über Liebe und Religion – Erstaunlich, was da alles in ihr schlummert. So viel Erkenntnis, verpackt in kindlichen Bildern der Welt – Wow! Und ich habe sie einfach nur im Arm, bin sehr gerührt und versuche ihr eben all diese Sonne und Wärme zu geben, die sie durch ihr ganzes Leben tragen mag. Fünf Minuten später ist unser philosophischer Exkurs ( ;-) ) beendet. Sie springt auf und rennt zurück in die Wohnung – Da gibt es jetzt noch ein Bild, welches fertig gemalt werden will.

Sonntag, 7. Januar 2024

Spinner - Benedict Wells

 

Nachdem ich über die Weihnachtstage «Vom Ende der Einsamkeit» gelesen habe und in dem Roman regelrecht versunken bin, habe ich mir auch noch ein paar andere Bücher von Wells gekauft – Und Gestern und heute war nun «Spinner» dran.

 

Der Spinner ist Jesper Lier, welchen der Leser eine ereignisreiche Woche von Montag bis Sonntag in seinem Leben in Berlin begleitet. Jesper ist Zwanzig Jahre alt, und lebt seit einem Jahr in Berlin um dort als Schriftsteller zu avancieren. Seine Kontakte nach München, wo er zur Schule ging, hat er allesamt mit dem Umzug abgebrochen, um in eine neue Welt zu flüchten – Weg von einer existierenden aber auch hin zu einer neuen, verheissungsvolleren.

 

Er haust in einer Kellerwohnung am Prenzlauer Berg, durch deren Oberlicht man die Beine der Fussgänger auf dem Trottoir sehen kann. Dort schrieb Jesper auch mit viel Alkohol, Schlaftabletten, Einsamkeit und Sehnsucht, sein Erstlingswerk «Der Leidensgenosse». Er ist in den letzten Zügen mit seinem epischen Manuskript von 1283 Seiten. Auch hat er gedanklich schon viele Diskussionen mit Verlegern gehabt – Manche rebellisch, manche unterwürfig. Doch einen wirklichen solchen Dialog gab es nie, denn Jespers episches Werk wurde immer abgelehnt. Eigentlich ist Jesper auch klar, dass der Roman über lange Stellen hinweg nicht gut genug war, um veröffentlicht zu werden und dennoch hält er beharrlich an ihm fest, erlaubt das Festhalten ihm doch das Verweilen in seiner Welt fern ab der Realität. Stück für Stück begleitet der Leser Jesper und beobachtet, wie diese imaginierte Welt Risse bekommt und an allen Ecken und Enden langsam der Geist eines neuen Lebensabschnitts eindringt.

 

«Spinner» ist Wells erster Roman, welchen er bereits mit 19 Jahren schrieb. Veröffentlicht wurde er aber erst nach seinem Debüt-Roman «Becks letzter Sommer» in 2009. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung überarbeitete Wells den kompletten Roman jedoch noch einmal und veröffentlichte die neue Version (welche ich gelesen habe) in 2019. Dazwischen lagen «Fast Genial (2011)», «Vom Ende der Einsamkeit (2016)», «Die Wahrheit über das Lügen (2018)». Hier beschreibt Wells auf, wie ich finde, sympathische Art, wie er von den Erfahrungen der dazwischenliegenden Romane profitiert hat, was ihn dazu bewogen hat den Roman zu überarbeiten und wie sich das auf den Roman ausgewirkt hat.


«Spinner» erreicht für mich deutlich nicht die emotionale Tiefe und Subtilität von «Vom Ende der Einsamkeit». Dennoch finde ich es einen lesenswerten Roman, welchen ich durchaus empfehlen kann.

Donnerstag, 4. Januar 2024

Ein ganzes Leben - Robert Seethaler

 

Mit 4 Jahren kommt Andreas Egger als Waisenjunge in das kleine Bergdorf, in welchem er 75 Jahre später, im Alter von 79 Jahren, sterben wird. Verlassen hat er das Dorf nur einmal, um in den Krieg zu ziehen und um 8 Jahre später aus der Gefangenschaft zurückzukehren. Zwischen diesen Eckpunkten gibt uns dieses Buch von Robert Seethaler viele leise und unspektakuläre Eindrücke aus dem Leben von Andreas Egger. Manchmal sind es auch spektakuläre Eindrücke - Diese werden aber ebenso leise und unprätentiös erzählt, so dass die sich daraus ergebende Diskrepanz den lakonischen Charakter von Andreas Egger zum Greifen nahebringt.

 

Es ist ein einfaches Leben, dem Egger sich hingibt. Es sind nicht Ziele oder Visionen, in denen er sich verwirklichen will, sondern es ist einfach das Leben selbst, das gelebt werden will, so wie es sich ihm gerade darbietet. Mit stoischer Gelassenheit erfährt er Schicksalsschläge, wie auch grosse Momente des Glücks gleichermassen. Und genau so beschreibt Seethaler auch die letzten Momente dieses Lebens:

 

«Er spürte einen hellen Schmerz in seiner Brust und sah zu, wie sein Oberkörper langsam nach vorne sank und sein Kopf mit der Wange auf der Tischplatte zu liegen kam. Er hörte sein eigenes Herz. Und er lauschte der Stille, als es zu schlagen aufhörte. Geduldig wartete er auf den nächsten Herzschlag. Und als keiner mehr kam, liess er los und starb.»

 

Mich hat diese Art sein Leben zu leben auf eine komische Art und Weise beeindruckt. Es ist wohl am ehesten eine Art der Bewunderung, vermischt mit und zugleich einem völligen Unverständnis mit welch geringen emotionalen Amplituden das Leben von Andreas Egger sich entfaltet. Die stoische Gelassenheit, die völlige Absenz von Dramatik einerseits wie auch überschwänglicher Freude andererseits. Irgendwie bin ich fasziniert von dieser Einfachheit und Gelassenheit dem Leben zu begegnen. Immer mal wieder schleicht sich beim Lesen ein neidischer Gedanke ins Bewusstsein. Nur um auf dessen Versen von der Erkenntnis gefolgt zu sein, nie ein solches Leben selbst führen zu können und, auf den zweiten Blick auch nicht führen zu wollen. 


Freitag, 29. Dezember 2023

Der letzte Satz - Robert Seethaler

 

Der Leser reist mit Gustav Mahler zusammen auf der «Amerika» im Jahre 1911 von New York zurück nach Europa. Es wird Mahlers letzte Reise sein und er ist sich dessen vollends bewusst. Er sitzt auf einem «… eigens für ihn abgetrennten Teil des Sonnendecks» und nimmt uns mit in seinen Gedanken. Gedanken, welche geprägt sind durch dieses endgültige Bewusstsein. 

 

Einzelne, fast zufällig anmutende Rückblicke Mahlers erzählen Situationen seines Lebens. Situationen mit seiner Frau Alma und seiner Tochter Anna, die zu dieser Zeit beide im Speisesaal des Dampfers zu Frühstück sitzen. Die freudigen Erinnerung an seine Tochter Maria am Wörther See, wie auch die Erinnerungen ein Jahr später, als sie mit 4 Jahren an Diphterie starb. Alles in allem plastisch und elegant beschriebene Momente aus dem Leben Mahlers, welche für sich genommen immer wieder zu eigenen Gedanken anregen.

 

Und dennoch hat mich das Buch bei weitem nicht so gefesselt wie der Trafikant, den ich vor ein paar Tagen gelesen habe. Irgendwie erschienen mir die Reflexionen zu willkürlich oder vielleicht auch zu verstreut. Mir waren sie zu wenig oder eben nicht tief genug, um in die Charaktere Mahlers einzutauchen. So waren es eher kurze Strophen eines Lebens, die aber den roten Faden des Lebens, welches gerade zu Ende geht und welches im Lichte dessen auf sich zurückblickt nicht zu zeichnen vermag.

 

So folgte ich der Erzählung durchaus ergriffen, aber nicht aus dem Gefühl des Protagonisten heraus, sondern eher aus dem Erfahrungsschatz meines eigenen Lebens über die einzelnen Kapitel hinweg bis ins vorletzte Kapitel, in welchem Seethaler Mahler sagen lies: 


«Alles war voller Leben. Selbst der Tod war nur eine Idee der Lebenden. Solange man sich ihn vorstellen konnte, war er nicht da. Doch der Tod hatte sich angekündigt.»


Und in diesem Sinne ist es dann auch nicht Mahlers Perspektive, aus welcher das letzte Kapitel geschrieben ist, sondern die des Schiffsjungen, der aus dem Abstand seines eigenen Lebens, beiläufig durch einen Zeitungsartikel vom Tod Mahlers in Kenntnis gesetzt, auf Mahler zurückblickt. Ein eher banaler Blick, geprägt durch seine kurze Begegnung mit Mahler. Ein Blick, entkernt von all der Erfahrung, welche den Menschen Mahler ausgemacht hat.


Ein Blick auf die äussere Hülle eines Menschen, welche zu Lebzeiten gefüllt war mit Emotionen, Schmerz und Liebe und nun doch nur als eine Büste erscheint. Eine einsame Büste, wie Rodin sie vom ungeduldigen Mahler in einem der Rückblicke im Buch anfertigte.

Mittwoch, 27. Dezember 2023

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

 

Auf der Suche nach neuen Autoren, welche ich lesen könnte (denn wenn mir ein Autor gefällt, lese ich meist alles von ihm) bin ich letzte Woche im Buchladen an diesem Buch hängen geblieben. So richtig hängen geblieben bin ich dann aber im Wintergarten bis früh in die Morgenstunden, in denen ich langsam und zelebrierend die letzten Seiten des Buches habe auf mich wirken lassen.

 

Ein Buch, welches ich genossen habe wie schon lange kein anderes mehr und mit welchem ich mir jetzt in meinem Blogeintrag aber auch schwertue. Ich möchte eigentlich nicht den Inhalt des Buches wiedergeben. Das tut der Klappentext schon zur Genüge. Mehr braucht es nicht – denn obwohl die Handlung sich kurzweilig entfaltet, die Charaktere plastisch hervortreten und man wie automatisch in ihre Phänomenologie mit eintaucht lebt, das Buch von ganz vielen verstreuten grossen und kleinen Schätzen wie z.B. folgender:

 

«Das Gedächtnis ist ein geduldiger Gärtner, und der winzige Samen, den ich an jenem Abend im Internat in meinen Kopf gelegt habe, ist im Laufe der Jahre zu einer prächtigen Erinnerung herangewachsen.»

 

Ich finde dies eine wunderschöne Beschreibung der Konstruktivität unserer Erinnerung. Eine Konstruktivität, die z.B. Loftus et. al. aus wissenschaftlicher Sicht auch im Hinblick auf die Implikationen auf unser Rechtssystem beleuchten. Bei Wells liegt der Schwerpunkt aber auf einem anderen Aspekt. Es geht nicht um die psychologischen Faktoren und Mechanismen (z.B. Schemakongruente Erinnerung, Dissonanz-Theorie, etc.), welche zur Konstruktivität der Erinnerung führen. Vielmehr ist es der unmittelbare Nutzen, welchen die Menschen daraus ziehen die Vergangenheit nicht als Abbild des Geschehenen zu speichern, sondern sie das Erlebte zu jeder Zeit, in der sie sich erinnern je nach Kontext neu erinnern. Es sind die versöhnlichen Aspekte der Konstruktivität unserer Erinnerung, welche uns erlauben, auch Schmerz und Leid in unser Leben zu integrieren, ihnen einen Sinn zu geben und uns damit an Leid nicht zwangsläufig verzweifeln lassen, sondern uns die Chance geben daran zu wachsen. Er knüpft damit direkt an «Das Leben ist anderswo» von Kundera an, der dort seinem Protagonisten Jaromil folgende Worte in den Mund legt: 

 

«Glauben Sie, die Vergangenheit sei, nur weil sie schon geschehen ist, fertig und unabänderlich? Ach nein, ihr Kleid ist aus schillerndem Taft geschneidert, und jedesmal, wenn wir uns nach ihr umdrehen, sehen wir sie in einer anderen Farbe.»

 

Leider habe ich viel zu spät damit angefangen all diese schönen Stellen im Buch zu unterstreichen (etwas, das ich früher immer gemacht habe). Stellen, deren Ästhetik einen berühren und deren Inhalt unseren Verstand und unsere Neugier anregen. 

 

Darum zum Schluss nur noch ein Zitat, welches sich Wells von Bob Dylan geborgt hat:

 

«You can’t be wise and in love at the same time»

 

Ein Satz, über welchen man in vielerlei Hinblick nachdenken kann. Welche Pille würdest Du wählen? Die Rote oder die Blaue?


Samstag, 23. Dezember 2023

Der Trafikant - Robert Seethaler

 Als ich neulich im Lago in der Buchhandlung war, habe ich mich für die Feiertage mit Büchern eingedeckt, um stellenweise dem Trubel der Festtage immer mal wieder im Wintergarten zu entgehen. Zu versinken in anderen Welten, in welche man beim Lesen geführt wird und die dann auch irgendwie mit meiner eigenen Welt verschmelzen und einen Teil von ihr werden – Reiche Momente, welche ich in den letzten Jahren, glaube ich, viel zu wenig aufgesucht habe.


 

Zu Anfang ist der Trafikant Franz Huchel noch kein Trafikant. Er ist ein 17-jähriger Bub aus dem Salzkammergut. Ein Bub mit «zarten Händen… Zart und weich und weiss», der im Gegensatz zu den meisten seiner Altersgenossen nicht zum Überleben der Familie beitragen muss obwohl sein Vater bereits kurz vor seiner Geburt verstorben ist. Dies verdankt er der Affaire seiner Mutter mit dem reichen Unternehmer Alois Preininger. Doch als dieser vom Blitz beim Baden getroffen stirbt, schickt ihn seine Mutter nach Wien zu Otto Trsnjek, einem Kriegsveteranen und Trafikanten, mit welchem die Mutter vor langer Zeit eine Affaire hatte und der ihr «noch einen Gefallen schuldet». 

 

In Wien, von dessen Treiben und Geschäftigkeit er anfangs überwältigt und verwirrt ist, wird er peu-à-peu mehr zu einem Trafikanten. Also jemandem, der Tabakwaren und Zeitungen verkauft und der «…immer wissen muss, was draussen passiert. Er muss allen Leuten zuhören und sich merken, was sie erzählen…» denn «…ein Trafikant ist wie eine Zeitung…». Und so beginnt Franz sich für die Kunden und in der Folge auch immer mehr dafür zu interessieren, wie sich Wien vor und nach der Eingliederung ins Deutsche Reich zu verändern begann.

 

Einer der ersten Kunden, die Franz kennen lernt ist Sigmund Freud, der regelmässig seine Matadore Nr. 7 in Otto Trsnjeks Trafik kauft. Franz ist fasziniert von Freud – Zuerst von seinem Ruf als Deppendoktor, welcher ihm bis ins Salzkammergut vorausgeeilt war. Alsbald vom Ruhm des Professors und in der Folge dann auch vom Austausch der beiden so ungleichen Menschen, die sich aber zunehmend auf einer gemeinsamen Ebene wiederfinden.

 

Bei einem Prater Besuch trifft Franz auf Anezka und wie in einem Film verlangsamt sich das turbulente Treiben im Prater. Es verlangsamt sich die Sprache und in Zeitlupe beobachten wir, wie Franz sich das erste Mal verliebt:

 

«Direkt vor ihm, vielleicht in zehn Metern Entfernung, stieg ein Gesicht in den Himmel auf, ein rundes Mädchengesicht, hell und lachend und umrahmt von einem Strahlenkranz strohblonder Haare. … Und hoch oben, in schwindelerregender Höhe, blieb dieses Gesicht für einen Augenblick einfach stehen, ein rosiger Fleck in der blauen Weite des Himmels, stiess einen hellen Juchzer aus, sauste gleich darauf mit fliegenden Haaren hinunter, nur um eine Sekunde darauf wieder hochzusteigen.»

 

Der Charakter des Franz wird für den Leser in der Folge immer plastischer. Franz gewinnt stark an Kontur und innerer Fülle durch die Interaktion mit seinen vier Hauptbezugspersonen. Mit der Mutter, die er nach seinem Weggang aus dem Salzkammergut nicht mehr wiedersehen wird, deren Liebe man aber in den kurzen Postkarten und Briefen unheimlich plastisch spüren kann. Mit Otto Trsnjek, der immer mehr zum Vater wird (…bis er es ist). Mit Anezka, durch die Franz eine Welt jenseits der idealisierenden romantischen Liebe (die er für sie hegt) entdeckt. Sowie mit Sigmund Freud, der Franz hilft, die Welt und deren Vorkommnisse zu verstehen - oder vielleicht auch nur ihnen einen Rahmen zu geben, um sie nicht verstehen zu müssen. Man ist fast an Bubers Gedanken zum «Ich-Du-Verhältnis» erinnert («Der Mensch wird am Du zum Ich», aus «Ich und Du», 1923), denn über das ganze Buch hinweg beobachtet man wie sich das Ich von Franz durch die Interaktion immer plastischer herausbildet. 

 

Ein Buch, in welches ich von der Sprache her, aber auch von der sich immer deutlicher werdenden Individuation richtig eintauchen konnte. Man spürt die Charaktere und lebt mit ihnen einen Teil ihrer Emotionen. Ich bin gespannt auf die anderen Bücher von Seethaler, welche ich mir nun auch bestellt habe.

Montag, 15. März 2010

The Other Hand – Chris Cleave

It was roughly two weeks ago when an interesting person suggested reading this book in midst of a good discussion. Upon my question what this book was about, she only answered ‚I can’t tell you’, which of course added to my natural curiosity. I ordered the book and once I got it, I couldn’t really stop reading anymore. It is fairly different to the other books I typically read. To what extend? Well, I guess that is hard to explain without telling you some of its content - which the author has explicitly requested not to.

But I guess on an abstract level, one could say that a large part behind the story is about choices we all make in our lives, it is about choices we evade and it is about the consequences of these two ways of choosing. From that point of view, it is a fairly existentialistic novel and throughout various scenes, I kept thinking of Viktor Frankl and his concept of attitudinal values (Einstellungswerte).

According to Frankl, there are three possible ways to categorise our quest for the meaning of life. Besides experiential values (experiencing something or someone we value) and creative values (creating something of value to us or on an abstract level, create value by becoming involved into our own life) it is especially the concept of attitudinal values, which become apparent throughout this novel. In various scenes, Chris Cleave steers his antagonists into predicament and watches them closely how they deal with it, based on their inner most emotions and feelings. Similar to Frankls experiences it transpires, that one part of the equation to meaning in life can be found in agony since it is there, where we face irrevocabilities of life which force us to accept a given situation and leave us no more alternative as to choose our attitude with which we face our fate. It is a remarkable view that this last choice we can make constitutes the largest freedom we own. Fair enough, we have to bear the consequences of our choices and Chris Cleave makes this horribly clear throughout the evolvement of the plot. But it becomes also transparent that if we dare to take such a choice, we defy all chains that have held us back from discovering our very personal meaning of live.


‘Listen Charlie’, I said. ‘Your daddy did not die because you were not there. It is not your fault. Do you understand? You are a good boy, Charlie. It is not your fault at all.’

Charlie pulled himself out of my arms and looked at me.

‘Why did mine daddy die?’

I thought about it.

‘The baddies got him, Charlie. But they are not the sort of baddies Batman can fight. They are the sort of baddies that your daddy had to fight in his heart and I have to fight in my heart. They are baddies from inside.’

Charlie nodded. ‘Is there lots?’

‘Of what?’

‘Of baddies from inside?’

I looked at the dark tunnels, and I shivered.

‘I think everyone has them’ I said.


And now, towards the end of this blog entry, I am looking high and low for a verb that would give an appropriate explanation of my feelings while reading this book – but I guess I really enjoyed reading this book although joy is at all not what one feels while reading it. Either way, it’s worthwhile reading – go for it.

Mittwoch, 13. Januar 2010

Die Reise mit Paula – irvin D. Yalom

Nun, da die Semesterabschlussprüfungen vorüber sind, habe ich wieder etwas mehr Zeit für die anderen Dinge, welche die letzten Wochen und Monate liegen geblieben sind. Vor einer ganzen Weile habe ich bereits dieses Buch von Yalom gelesen und muss sagen, dass es ein ‚typischer Yalom’ ist.

In 6 Geschichten bietet Yalom Einblick in seine Arbeit als Psychotherapeut, welche wohl am ehesten als eine Verschmelzung aus analytischer Psychologie (Ätiologie), Existenzialismus (Überzeugung) und Humanismus (Haltung) verstanden werden kann. Sechs Geschichten, in welchen die Themen Verlust und Tod mal auf Basis wirklicher Begegnungen, mal erforscht in fiktiven Realitäten, sich als grosse treibende Kraft in unserem Leben zeigen.

Obwohl manche den Gedanken an ihn nicht ertragen können und nicht weiterleben wollen, löschen die meisten von uns das Bewusstsein des Todes aus, indem wir uns in die Aufgaben des Erwachsenenlebens stürzen – wir gründen eine Familie, widmen uns den Karrieren, dem persönlichen Wachstum, erwerben Besitztümer, üben Macht aus, bemühen uns, in allem Sieger zu bleiben. Da stehe ich jetzt im Leben. Nach diesem Stadium treten wir in das späte Lebensalter ein, in dem das Bewusstsein vom Tod wieder auftaucht. Und jetzt ist der Tod entschieden bedrohlich – er steht sogar unmittelbar bevor.

Dies hat mich im Übrigen an die Konstruktion der eigenen Identität und der Tatsache erinnert, dass es für Menschen (überlebens-) wichtig ist, das Gefühl einer inneren Konstanz aufrecht zu erhalten. Dieses uns innewohnende Konstanzstreben, welches so mächtig ist, die Vergangenheit in einem anderen Lichte erscheinen zu lassen, wurde eindrücklich von Kundera in ‚Das Leben ist anderswo’ beschrieben und auch Sloterdijk lies sich wohl durch diesen Gedanken inspirieren, als er im Zuge seiner übungstheoretischen Anthropologiebetrachtung schieb:

Verhalte dich jederzeit so, dass die Nacherzählung deines Werdeganges als Schema einer verallgemeinerbaren Vollendungsgeschichte dienen könnte.

Mir hat das Buch wirklich gut gefallen, da es in vielen Details menschliche Verhaltensweisen aufzeigt und diese in einen grösseren Bezugsrahmen eingliedert, über welchen wir Sinn erzeugen. Es regt ungemein zum Nachdenken an und schafft so eine interessante Betrachtungsweise auf unser eigenes Tun und Handeln.

Natürlich sind diese Betrachtungen in nahezu jedem Buch von Yalom zu finden (Siehe: Die Schopenhauer-Kur, Und Nietzsche weinte, Existenzielle Psychotherapie, Die Liebe und ihr Henker, Der Panama-Hut, Ein menschliches Herz), doch die unterschiedlichen Blickwinkel, die hierbei eingenommen werden, sind meines Erachtens nach sehr hilfreich um aus all den Schatten, die dort beschrieben werden, intuitiv auf das eigentliche Feuer schliessen zu können. Ein Feuer in uns, von welchem wir uns vermutlich nie ein Bild machen können – es aber dennoch intuitiv begreifen können.

Zum Schluss möchte ich noch einen Satz zitieren, welcher den Aspekt der Reziprozität von Liebe ausdrückt ohne kalt und analysierend wie all die anderen Reziprozitätsbetrachtungen zu wirken. Ein Satz, der mir wirklich gut gefällt:

Die Menschen lieben sich, wenn sie sehen, wie sich ein liebevolles Bild von ihnen selbst in den Augen eines Menschen spiegelt, an dem ihnen wirklich etwas liegt.

Freitag, 25. Dezember 2009

Ein menschliches Herz – Irvin D. Yalom

Eigentlich wollte ich ja heute den ganzen Tag auf die Prüfungen im Januar lernen, aber als ich gestern in der Buchhandlung zwei neue Bücher für das kommende Semester abgeholt habe (Entwicklungspsychologie), entdeckte ich auch ein neues Buch von Yalom. Und so sank ich heute mit Cappuccino, einem Glas voll Gummibärchen, frisch gepresstem Orangensaft und mehreren Vanillekerzen gerüstet, in die Fluten meiner Badewanne. Im Hintergrund aus dem Wohnzimmer hörte ich Pink Floyd und begann zu lesen.

Zwar verbindet Bob (Robert L. Berger) und Irv (Irvin D. Yalom) eine lange Freundschaft, und trotzdem hat Bob nie sehr viel darüber erzählt, wie er als Jugendlicher, dessen ganze Familie ermordet wurde, alleine den Holocaust in Ungarn überlebte. Doch als Bob an der 50 Jahrfeier ihrer Approbation Irv am Arm nahm und zur Seite zog sollte sich dies ändern. Im weiteren Verlauf folgt der Leser der Unterhaltung zwischen Bob und Irv an besagter Jubiläumsfeier und wird dabei Zeuge, wie stark die Gegenwart noch nach Jahrzehnten an den Toren der Vergangenheit rütteln kann.

Im Vergleich zu den andern Büchern, die ich von Yalom gelesen habe (Die Schopenhauer-Kur, Und Nietzsche weinte, Existenzielle Psychotherapie, Die Liebe und ihr Henker, Der Panama-Hut, Die Reise mit Paula), ist dieses Buch weder Roman noch Fachbuch. Es erscheint vielmehr die Skizze oder Vorlage eines Romans zu sein. So werden weder die einzelnen Figuren, noch die Umstände detailliert herausgearbeitet. Auch gibt es nur den einen Handlungsstrang der Unterhaltung, aus welchem zurück in die Vergangenheit geblickt wird. All die schriftstellerischen Fähigkeiten, die Yalom ansonsten eigentlich auszeichnen, finden hier also wenig Anwendung.

Und doch ist es irgendwie stimmig, denn das was Yalom beschreibt, erscheint sehr real - vermutlich weil es ebenso real von den Beteiligten erlebt wurde. Sicher hätte ein Roman um diesen Kern die Spannung erhöht oder den Leser stärker in die Vergangenheit entführt. Und trotzdem wird nach dem Lesen des Buches glaube ich klar, warum sich Yalom für diesen Weg entschieden hat. Die Realität der Ereignisse (die mich übrigens einige Male an Frankls Schilderungen erinnert hat) steht für sich selbst.

Samstag, 19. Dezember 2009

François Lelord – Hector & Hector und die Geheimnisse des Lebens

Als ich heute sehr spät aufstand und den Rolladen hochkurbelte, schneite es bereits heftig. Eigentlich hatte ich ja vor einkaufen zu gehen, aber die zu erwartenden Menschenmengen an einem Samstagnachmittag, sowie der viele Schnee hielten mich davon ab. Ich lies mir also die Badewanne einlaufen und schnappte mir ein Buch aus dem grossen Stapel der Bücher, die noch gelesen werden wollen. So lag ich also in der Wanne und las, bis es an der Haustüre klingelte. Doch bis ich mich abgetrocknet und den Bademantel angezogen hatte, war niemand mehr da. Allerdings bemerkte ich, dass es bereits dunkel geworden war.

Von François Lelord habe ich bisher alle Bücher gelesen und sie gefallen mir immer wieder und so habe ich mich auch auf das neue ‚Hector-Buch’ gefreut. Unser Protagonist ist inzwischen älter geworden und hat nun eine eigene Familie. Und ja, sein Sohn heisst auch Hector. Petit-Hector um genau zu sein; und seine Perspektive ist es auch, durch die wie die Welt von Hector, Claire und Petit-Hector kennen lernen.

Eigentlich kommt Petit-Hector (bis auf seinen ausgefallenen Berufswunsch) ganz nach seinem Vater, denn schon früh versucht er die Geheimnisse der Welt zu erkunden und macht sich hierzu ebenfalls Notizen in seinem kleinen Notizbuch. So folgen wir Petit-Hector durch seine – wie er das ausdrückt – verschiedenen Leben. Sein Leben als Kind in der Familie, als Schüler in der Schule, als Freund unter Freunden und allmählich beginnt sich auch eine weitere Welt abzuzeichnen. Eine Welt, die Petit-Hector mit Amandine gleichsetzt.

Wie von Lelord gewohnt, liest sich das Buch sehr flüssig und kurzweilig. Die Zeit verging im Flug, auch wenn man sich manchmal, gerade im Hinblick auf die ersten beiden Hector-Bücher, mehr philosophische Aspekte gewünscht hätte. Aber im Epilog sieht man dann doch auch, dass Petit-Hector und sein Vater ganz ähnliche Schlüsse aus zum Teil ganz anderen Erfahrungen ziehen. Nur eines beschäftigt zumindest die romantisch veranlagten Leser – Was ist mit Amandine???

Alles in allem, ein nettes kurzweiliges Buch, das sicher für alle Hector-Leser ein Muss ist. Allen Anderen würde ich wirklich erst die anderen Hector-Bücher (‚Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück’, ‚Hector und die Geheimnisse der Liebe’ sowie ‚Hector und die Entdeckung der Zeit’), das Vorgängerbuch (‚im Durcheinanderland der Liebe’) oder die populärwissenschaftlichen Bücher (‚Der ganz normale Wahnsinn: Vom Umgang mit schwierigen Menschen’, ‚Die Macht der Emotionen: und wie sie unseren Alltag bestimmen’ und ‚Die Kunst der Selbstachtung’) empfehlen.

Donnerstag, 17. Dezember 2009

Der fernste Ort – Daniel Kehlmann

Von Daniel Kehlmann habe ich bisher nur ‚Die Vermessung der Welt’ gelesen und war ziemlich begeistert davon. Folglich war ich auch sehr gespannt, als ich ‚Der fernste Ort’ vom Stapel der Bücher nahm, die ich noch lesen will. Eigentlich ist der Stapel schon viel zu gross geworden, aber neben all dem, was ich für das Studium lese, kommen im Moment Romane einfach etwas zu kurz.

Julian ist ein Versicherungsangestellter, der zusammen mit seinem Vorgesetzten auf einer Konferenz ist und dort einen Vortrag halten soll. Einen Vortrag, welchen er weder imstande noch willens ist zu halten und so kommt ihm die Gelegenheit sein Ertrinken im nahe gelegenen See vorzutäuschen, um sich aus seinem alten Leben zu verabschieden, wie gerufen.

Im Folgenden vermischt der Autor den Fortgang der Handlung mit Rückblicken aus dem Leben Daniels. Ein Leben, welches unaufhörlich voranschreitet ohne gelebt zu werden. Ein Leben, welches einfach so geschieht und ein Daniel, der schon früh gelernt hat es geschehen zu lassen. Selbst der Ausreissversuch, den Daniel bereits in jungen Jahren unternommen hat und welcher den Hintergrund für die Entwicklung der Geschichte bietet, scheint eher Ausdruck einer unausweichlichen Notwendigkeit des Ganges der Dinge zu sein, als einer sich letztmals aufbäumenden Selbstbestimmtheit zu entspringen. Gezeichnet wird das Bild eines Mannes, der sein Leben getränkt von Dysthymie und Gleichgültigkeit geschehen lässt und wie ein unbeteiligter Zuschauer das sich darbietende Schauspiel verfolgt.

Überzeugt hat mich das Buch jedoch nicht. Zu unmotiviert ist das Verhalten Daniels, und zu plakativ stereotypisch erscheinen mir zuweilen die Schilderungen der Anteilnahmslosigkeit, welche Daniel seinem Leben gegenüber zeigt; Zu forciert der Versuch eine Atmosphäre der bedrückenden Unausweichlichkeit des Schicksals zu zeichnen, welche nur durch Resignation ertragen werden kann. Zwar sind manche dieser Schilderungen gut gelungen, in ihrer Gesamtheit bleiben sie aber - wie das ganze Buch - unglaubwürdig.

Dienstag, 12. Mai 2009

Psychotherapeutische Verfahren I - Dirk Revenstorf

Im ersten seiner vier Bände über die verschiedenen Schulen von Psychotherapeutischen Verfahren, beschäftigt sich Dirk Revenstorf mit den tiefenpsychologischen Aspekten der Psychotherapie. Die ca. 60 Seiten des ersten Kapitels sind jedoch einer allgemeinen Einleitung gewidmet, in welchem der Autor einerseits die grundlegenden Ansätze der verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychotherapie, sowie andererseits die Aspekte für eine wissenschaftlich komparative Sicht auf diese Ansätze beschreibt. So nehmen Themen wie ‚Therapie-Evaluation’, ‚Therapieprozess’ wie auch ‚Ethik des Psychotherapeuten’ eine zentrale Stellung in diesem Kapitel ein.

Das zweite Kapitel widmet sich dann ausgiebig Freud, dem Urvater der Tiefenpsychologie und seiner Psychoanalyse. Doch so interessant und richtungweisend manche seiner Gedanken gewesen sein mögen, so schnell lässt Freuds Pansexualismus, welcher im Fin de Siècle wohl revolutionär und angebracht war, vor dem Hintergrund der heutigen Gesellschaft Langeweile aufkommen. Nichts desto trotz empfand ich dieses Kapitel speziell im Hinblick auf Historie und Entstehungsgeschichte der Psychotherapie interessant.

Im folgenden Kapitel erweitert Revenstorf den von Freud vorwiegend auf das einzelne Individuum verstandenen Begriff des Unbewussten auf das von Jung postulierte kollektive Unbewusste, welches den Nährboden für dessen Archetypen darstellt. Hiermit wird das Gebiet der für die Ontogenese wichtigen Faktoren um die Phylogenese erweitert, denn Jung sieht in diesen Archetypen das psychische Erbe der Evolution im Individuum manifestiert.

Im vierten Kapitel tritt neben der bisher vorherrschenden geistig-psychischen Sichtweise, der Körper des Menschen ins Blickfeld der Psychotherapie. Während dieser Versuch der Integration des Körpers bei Reich noch interessante, aber teilweise doch irgendwie abstruse Züge annimmt, so merkt man wohl im Laufe des Kapitels, wie diese Bewegung Grundlage für viele der heute verbreiteten Sichtweisen (in etwa der Gestaltpsychologie oder des Embodiment) darstellt.

Anknüpfend an die Bewegung des dritten Kapitels, in welchem die Phylogenese als gestaltendes Element der Ontogenese eingeführt wurde, wird im fünften Kapitel der soziale Aspekt als einer der Triebkräfte auf die individuelle Entwicklung auf Basis der Gedanken Adlers hervorgehoben. So findet sich auch schnell der Übergang zu Bernes Transaktionsanalyse, welche den Hauptteil dieses Kapitels ausmacht.

Als einen prägnanten Abriss über die frühen Anfänge der Tiefenpsychologie, deren Wurzeln bis in fast alle moderneren Formen der Psychotherapie hineinragen, hat mir dieses Buch gut gefallen. Aus heutiger Sicht mögen zwar manche der zugrunde liegenden Gedanken als abstrus oder überholt gelten, doch bezogen auf deren historischen Kontext und die damit verbundenen Fragestellungen und Themen der damaligen Gesellschaft, erhält der Leser die Möglichkeit der abstrakten, aus seinem Umfeld herausgelösten Betrachtungsweise, welche mich mehr als einmal dazu angeregt hat darüber nachzudenken, wie wohl die heutigen Ansichten bereits in naher Zukunft wirken werden. Gedanken, die mich des Öfteren an folgende Zeilen aus Giuseppe Tomasis Roman ‚Il Gattopardo’ (Der Leopard) erinnert haben:


„Es muss sich vieles ändern, damit alles so bleibt, wie es ist.“