Samstag, 23. Dezember 2023

Der Trafikant - Robert Seethaler

 Als ich neulich im Lago in der Buchhandlung war, habe ich mich für die Feiertage mit Büchern eingedeckt, um stellenweise dem Trubel der Festtage immer mal wieder im Wintergarten zu entgehen. Zu versinken in anderen Welten, in welche man beim Lesen geführt wird und die dann auch irgendwie mit meiner eigenen Welt verschmelzen und einen Teil von ihr werden – Reiche Momente, welche ich in den letzten Jahren, glaube ich, viel zu wenig aufgesucht habe.


 

Zu Anfang ist der Trafikant Franz Huchel noch kein Trafikant. Er ist ein 17-jähriger Bub aus dem Salzkammergut. Ein Bub mit «zarten Händen… Zart und weich und weiss», der im Gegensatz zu den meisten seiner Altersgenossen nicht zum Überleben der Familie beitragen muss obwohl sein Vater bereits kurz vor seiner Geburt verstorben ist. Dies verdankt er der Affaire seiner Mutter mit dem reichen Unternehmer Alois Preininger. Doch als dieser vom Blitz beim Baden getroffen stirbt, schickt ihn seine Mutter nach Wien zu Otto Trsnjek, einem Kriegsveteranen und Trafikanten, mit welchem die Mutter vor langer Zeit eine Affaire hatte und der ihr «noch einen Gefallen schuldet». 

 

In Wien, von dessen Treiben und Geschäftigkeit er anfangs überwältigt und verwirrt ist, wird er peu-à-peu mehr zu einem Trafikanten. Also jemandem, der Tabakwaren und Zeitungen verkauft und der «…immer wissen muss, was draussen passiert. Er muss allen Leuten zuhören und sich merken, was sie erzählen…» denn «…ein Trafikant ist wie eine Zeitung…». Und so beginnt Franz sich für die Kunden und in der Folge auch immer mehr dafür zu interessieren, wie sich Wien vor und nach der Eingliederung ins Deutsche Reich zu verändern begann.

 

Einer der ersten Kunden, die Franz kennen lernt ist Sigmund Freud, der regelmässig seine Matadore Nr. 7 in Otto Trsnjeks Trafik kauft. Franz ist fasziniert von Freud – Zuerst von seinem Ruf als Deppendoktor, welcher ihm bis ins Salzkammergut vorausgeeilt war. Alsbald vom Ruhm des Professors und in der Folge dann auch vom Austausch der beiden so ungleichen Menschen, die sich aber zunehmend auf einer gemeinsamen Ebene wiederfinden.

 

Bei einem Prater Besuch trifft Franz auf Anezka und wie in einem Film verlangsamt sich das turbulente Treiben im Prater. Es verlangsamt sich die Sprache und in Zeitlupe beobachten wir, wie Franz sich das erste Mal verliebt:

 

«Direkt vor ihm, vielleicht in zehn Metern Entfernung, stieg ein Gesicht in den Himmel auf, ein rundes Mädchengesicht, hell und lachend und umrahmt von einem Strahlenkranz strohblonder Haare. … Und hoch oben, in schwindelerregender Höhe, blieb dieses Gesicht für einen Augenblick einfach stehen, ein rosiger Fleck in der blauen Weite des Himmels, stiess einen hellen Juchzer aus, sauste gleich darauf mit fliegenden Haaren hinunter, nur um eine Sekunde darauf wieder hochzusteigen.»

 

Der Charakter des Franz wird für den Leser in der Folge immer plastischer. Franz gewinnt stark an Kontur und innerer Fülle durch die Interaktion mit seinen vier Hauptbezugspersonen. Mit der Mutter, die er nach seinem Weggang aus dem Salzkammergut nicht mehr wiedersehen wird, deren Liebe man aber in den kurzen Postkarten und Briefen unheimlich plastisch spüren kann. Mit Otto Trsnjek, der immer mehr zum Vater wird (…bis er es ist). Mit Anezka, durch die Franz eine Welt jenseits der idealisierenden romantischen Liebe (die er für sie hegt) entdeckt. Sowie mit Sigmund Freud, der Franz hilft, die Welt und deren Vorkommnisse zu verstehen - oder vielleicht auch nur ihnen einen Rahmen zu geben, um sie nicht verstehen zu müssen. Man ist fast an Bubers Gedanken zum «Ich-Du-Verhältnis» erinnert («Der Mensch wird am Du zum Ich», aus «Ich und Du», 1923), denn über das ganze Buch hinweg beobachtet man wie sich das Ich von Franz durch die Interaktion immer plastischer herausbildet. 

 

Ein Buch, in welches ich von der Sprache her, aber auch von der sich immer deutlicher werdenden Individuation richtig eintauchen konnte. Man spürt die Charaktere und lebt mit ihnen einen Teil ihrer Emotionen. Ich bin gespannt auf die anderen Bücher von Seethaler, welche ich mir nun auch bestellt habe.

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