Freitag, 29. Dezember 2023

Der letzte Satz - Robert Seethaler

 

Der Leser reist mit Gustav Mahler zusammen auf der «Amerika» im Jahre 1911 von New York zurück nach Europa. Es wird Mahlers letzte Reise sein und er ist sich dessen vollends bewusst. Er sitzt auf einem «… eigens für ihn abgetrennten Teil des Sonnendecks» und nimmt uns mit in seinen Gedanken. Gedanken, welche geprägt sind durch dieses endgültige Bewusstsein. 

 

Einzelne, fast zufällig anmutende Rückblicke Mahlers erzählen Situationen seines Lebens. Situationen mit seiner Frau Alma und seiner Tochter Anna, die zu dieser Zeit beide im Speisesaal des Dampfers zu Frühstück sitzen. Die freudigen Erinnerung an seine Tochter Maria am Wörther See, wie auch die Erinnerungen ein Jahr später, als sie mit 4 Jahren an Diphterie starb. Alles in allem plastisch und elegant beschriebene Momente aus dem Leben Mahlers, welche für sich genommen immer wieder zu eigenen Gedanken anregen.

 

Und dennoch hat mich das Buch bei weitem nicht so gefesselt wie der Trafikant, den ich vor ein paar Tagen gelesen habe. Irgendwie erschienen mir die Reflexionen zu willkürlich oder vielleicht auch zu verstreut. Mir waren sie zu wenig oder eben nicht tief genug, um in die Charaktere Mahlers einzutauchen. So waren es eher kurze Strophen eines Lebens, die aber den roten Faden des Lebens, welches gerade zu Ende geht und welches im Lichte dessen auf sich zurückblickt nicht zu zeichnen vermag.

 

So folgte ich der Erzählung durchaus ergriffen, aber nicht aus dem Gefühl des Protagonisten heraus, sondern eher aus dem Erfahrungsschatz meines eigenen Lebens über die einzelnen Kapitel hinweg bis ins vorletzte Kapitel, in welchem Seethaler Mahler sagen lies: 


«Alles war voller Leben. Selbst der Tod war nur eine Idee der Lebenden. Solange man sich ihn vorstellen konnte, war er nicht da. Doch der Tod hatte sich angekündigt.»


Und in diesem Sinne ist es dann auch nicht Mahlers Perspektive, aus welcher das letzte Kapitel geschrieben ist, sondern die des Schiffsjungen, der aus dem Abstand seines eigenen Lebens, beiläufig durch einen Zeitungsartikel vom Tod Mahlers in Kenntnis gesetzt, auf Mahler zurückblickt. Ein eher banaler Blick, geprägt durch seine kurze Begegnung mit Mahler. Ein Blick, entkernt von all der Erfahrung, welche den Menschen Mahler ausgemacht hat.


Ein Blick auf die äussere Hülle eines Menschen, welche zu Lebzeiten gefüllt war mit Emotionen, Schmerz und Liebe und nun doch nur als eine Büste erscheint. Eine einsame Büste, wie Rodin sie vom ungeduldigen Mahler in einem der Rückblicke im Buch anfertigte.

Mittwoch, 27. Dezember 2023

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

 

Auf der Suche nach neuen Autoren, welche ich lesen könnte (denn wenn mir ein Autor gefällt, lese ich meist alles von ihm) bin ich letzte Woche im Buchladen an diesem Buch hängen geblieben. So richtig hängen geblieben bin ich dann aber im Wintergarten bis früh in die Morgenstunden, in denen ich langsam und zelebrierend die letzten Seiten des Buches habe auf mich wirken lassen.

 

Ein Buch, welches ich genossen habe wie schon lange kein anderes mehr und mit welchem ich mir jetzt in meinem Blogeintrag aber auch schwertue. Ich möchte eigentlich nicht den Inhalt des Buches wiedergeben. Das tut der Klappentext schon zur Genüge. Mehr braucht es nicht – denn obwohl die Handlung sich kurzweilig entfaltet, die Charaktere plastisch hervortreten und man wie automatisch in ihre Phänomenologie mit eintaucht lebt, das Buch von ganz vielen verstreuten grossen und kleinen Schätzen wie z.B. folgender:

 

«Das Gedächtnis ist ein geduldiger Gärtner, und der winzige Samen, den ich an jenem Abend im Internat in meinen Kopf gelegt habe, ist im Laufe der Jahre zu einer prächtigen Erinnerung herangewachsen.»

 

Ich finde dies eine wunderschöne Beschreibung der Konstruktivität unserer Erinnerung. Eine Konstruktivität, die z.B. Loftus et. al. aus wissenschaftlicher Sicht auch im Hinblick auf die Implikationen auf unser Rechtssystem beleuchten. Bei Wells liegt der Schwerpunkt aber auf einem anderen Aspekt. Es geht nicht um die psychologischen Faktoren und Mechanismen (z.B. Schemakongruente Erinnerung, Dissonanz-Theorie, etc.), welche zur Konstruktivität der Erinnerung führen. Vielmehr ist es der unmittelbare Nutzen, welchen die Menschen daraus ziehen die Vergangenheit nicht als Abbild des Geschehenen zu speichern, sondern sie das Erlebte zu jeder Zeit, in der sie sich erinnern je nach Kontext neu erinnern. Es sind die versöhnlichen Aspekte der Konstruktivität unserer Erinnerung, welche uns erlauben, auch Schmerz und Leid in unser Leben zu integrieren, ihnen einen Sinn zu geben und uns damit an Leid nicht zwangsläufig verzweifeln lassen, sondern uns die Chance geben daran zu wachsen. Er knüpft damit direkt an «Das Leben ist anderswo» von Kundera an, der dort seinem Protagonisten Jaromil folgende Worte in den Mund legt: 

 

«Glauben Sie, die Vergangenheit sei, nur weil sie schon geschehen ist, fertig und unabänderlich? Ach nein, ihr Kleid ist aus schillerndem Taft geschneidert, und jedesmal, wenn wir uns nach ihr umdrehen, sehen wir sie in einer anderen Farbe.»

 

Leider habe ich viel zu spät damit angefangen all diese schönen Stellen im Buch zu unterstreichen (etwas, das ich früher immer gemacht habe). Stellen, deren Ästhetik einen berühren und deren Inhalt unseren Verstand und unsere Neugier anregen. 

 

Darum zum Schluss nur noch ein Zitat, welches sich Wells von Bob Dylan geborgt hat:

 

«You can’t be wise and in love at the same time»

 

Ein Satz, über welchen man in vielerlei Hinblick nachdenken kann. Welche Pille würdest Du wählen? Die Rote oder die Blaue?


Samstag, 23. Dezember 2023

Der Trafikant - Robert Seethaler

 Als ich neulich im Lago in der Buchhandlung war, habe ich mich für die Feiertage mit Büchern eingedeckt, um stellenweise dem Trubel der Festtage immer mal wieder im Wintergarten zu entgehen. Zu versinken in anderen Welten, in welche man beim Lesen geführt wird und die dann auch irgendwie mit meiner eigenen Welt verschmelzen und einen Teil von ihr werden – Reiche Momente, welche ich in den letzten Jahren, glaube ich, viel zu wenig aufgesucht habe.


 

Zu Anfang ist der Trafikant Franz Huchel noch kein Trafikant. Er ist ein 17-jähriger Bub aus dem Salzkammergut. Ein Bub mit «zarten Händen… Zart und weich und weiss», der im Gegensatz zu den meisten seiner Altersgenossen nicht zum Überleben der Familie beitragen muss obwohl sein Vater bereits kurz vor seiner Geburt verstorben ist. Dies verdankt er der Affaire seiner Mutter mit dem reichen Unternehmer Alois Preininger. Doch als dieser vom Blitz beim Baden getroffen stirbt, schickt ihn seine Mutter nach Wien zu Otto Trsnjek, einem Kriegsveteranen und Trafikanten, mit welchem die Mutter vor langer Zeit eine Affaire hatte und der ihr «noch einen Gefallen schuldet». 

 

In Wien, von dessen Treiben und Geschäftigkeit er anfangs überwältigt und verwirrt ist, wird er peu-à-peu mehr zu einem Trafikanten. Also jemandem, der Tabakwaren und Zeitungen verkauft und der «…immer wissen muss, was draussen passiert. Er muss allen Leuten zuhören und sich merken, was sie erzählen…» denn «…ein Trafikant ist wie eine Zeitung…». Und so beginnt Franz sich für die Kunden und in der Folge auch immer mehr dafür zu interessieren, wie sich Wien vor und nach der Eingliederung ins Deutsche Reich zu verändern begann.

 

Einer der ersten Kunden, die Franz kennen lernt ist Sigmund Freud, der regelmässig seine Matadore Nr. 7 in Otto Trsnjeks Trafik kauft. Franz ist fasziniert von Freud – Zuerst von seinem Ruf als Deppendoktor, welcher ihm bis ins Salzkammergut vorausgeeilt war. Alsbald vom Ruhm des Professors und in der Folge dann auch vom Austausch der beiden so ungleichen Menschen, die sich aber zunehmend auf einer gemeinsamen Ebene wiederfinden.

 

Bei einem Prater Besuch trifft Franz auf Anezka und wie in einem Film verlangsamt sich das turbulente Treiben im Prater. Es verlangsamt sich die Sprache und in Zeitlupe beobachten wir, wie Franz sich das erste Mal verliebt:

 

«Direkt vor ihm, vielleicht in zehn Metern Entfernung, stieg ein Gesicht in den Himmel auf, ein rundes Mädchengesicht, hell und lachend und umrahmt von einem Strahlenkranz strohblonder Haare. … Und hoch oben, in schwindelerregender Höhe, blieb dieses Gesicht für einen Augenblick einfach stehen, ein rosiger Fleck in der blauen Weite des Himmels, stiess einen hellen Juchzer aus, sauste gleich darauf mit fliegenden Haaren hinunter, nur um eine Sekunde darauf wieder hochzusteigen.»

 

Der Charakter des Franz wird für den Leser in der Folge immer plastischer. Franz gewinnt stark an Kontur und innerer Fülle durch die Interaktion mit seinen vier Hauptbezugspersonen. Mit der Mutter, die er nach seinem Weggang aus dem Salzkammergut nicht mehr wiedersehen wird, deren Liebe man aber in den kurzen Postkarten und Briefen unheimlich plastisch spüren kann. Mit Otto Trsnjek, der immer mehr zum Vater wird (…bis er es ist). Mit Anezka, durch die Franz eine Welt jenseits der idealisierenden romantischen Liebe (die er für sie hegt) entdeckt. Sowie mit Sigmund Freud, der Franz hilft, die Welt und deren Vorkommnisse zu verstehen - oder vielleicht auch nur ihnen einen Rahmen zu geben, um sie nicht verstehen zu müssen. Man ist fast an Bubers Gedanken zum «Ich-Du-Verhältnis» erinnert («Der Mensch wird am Du zum Ich», aus «Ich und Du», 1923), denn über das ganze Buch hinweg beobachtet man wie sich das Ich von Franz durch die Interaktion immer plastischer herausbildet. 

 

Ein Buch, in welches ich von der Sprache her, aber auch von der sich immer deutlicher werdenden Individuation richtig eintauchen konnte. Man spürt die Charaktere und lebt mit ihnen einen Teil ihrer Emotionen. Ich bin gespannt auf die anderen Bücher von Seethaler, welche ich mir nun auch bestellt habe.