Sonntag, 22. Juli 2007

Was wäre gewesen wenn...

Wie in meinem vorherigen Blogeintrag geschrieben, hat mich die Geschichte mit dem Kater sehr an die folgende Kurzgeschichte erinnert, die ich im Januar 2004 geschrieben habe. Wie Felix in dieser Geschichte, findet auch Peter in der Geschichte von McEwan seinen Frieden durch einen Traum (auch wenn dies ein Tagtraum war). Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie mächtig Träume (und damit die eigenen Gedanken) sind.

Was wäre gewesen wenn…

Felix lag auf dem Boden in seinem Kinderzimmer während die Sonne durch das Fenster brannte und seinen Rücken wärmte. Draussen blies ein kalter Wind und verwehte den Schnee, der sich über Nacht auf Bäumen und Dächern angesammelt hatte. Lange Schneefahnen welche im gleissenden Sonnenlicht strahlten zogen am Fenster seines Reiches vorbei. Neben ihm stand seine Mutter am Bügelbrett und widmete sich der frisch gewaschenen Wäsche. Er liebte diese Nachmittage. Er liebte auch seine Eltern und fühlte sich geborgen bei ihnen. Seine Hausaufgaben hatte er bereits am Freitag hinter sich gebracht und konnte sich so voll und ganz der Welt von „Tim und Struppi und der Haifischsee“ zuwenden. Mit jeder Seite, die er umschlug wurde er ein Stückchen mehr zu Tim und so erkundete er zusammen mit Struppi und seinem guten Freund Kapitän Haddock das Geheimnis des Haifischsees. Die Welt unter Wasser war mystisch. Er entdeckte die versunkene Stadt im Stausee und fühlte sich wie ein Eroberer, denn kaum ein Mensch vor ihm hatte diese Welt zu Gesicht bekommen. So hörte er es auch nur ganz entfernt als sein Vater seine Mutter rief. Sie verliess das Kinderzimmer und kurz darauf hörte Felix sie weinen.

Aufgeschreckt rannte Felix ins Wohnzimmer wo er seinen Vater und seine Mutter sah. Seine Mutter hielt sich ihre Hände vor ihr Gesicht und weinte. Sein Vater hatte sie im Arm und tröstete sie. Felix stand wie versteinert vor ihnen, wusste nicht was geschehen war, wusste zugleich aber auch, dass nichts mehr so sein würde wie es einmal gewesen war. Sein Vater sprach mit ihm in einer ganz ungewohnten Art und Weise. So hatte er seinen Vater noch nie kennen gelernt und das beunruhigte ihn. Doch das was sein Vater sagte erschrak ihn noch mehr.

Er rannte in sein Zimmer und setzte sich weinend und vor lauter Zorn auf seinen kleinen roten Hocker, den er schon seit er denken konnte in seinem Kinderzimmer im Zwischenraum zwischen dem Kleiderschrank und seinem Schreibtisch stehen hatte und bestrafte die Ganze Welt für den Schmerz, die man ihm angetan hatte indem er für immer schweigen würde. So ein Gefühl hatte er noch nie. Wie konnte man ihm das antun! Warum haben seine Eltern nichts dagegen getan. Sonst halfen sie ihm doch auch immer wenn er etwas angestellt hatte. »Felix, darf ich rein kommen? «. Kein Wort würde er sagen, denn er wollte auch seine Eltern bestrafen, er war wütend auf die ganze Welt und dazu gehörten schliesslich auch seine Eltern. Leicht aus den Augenwinkeln schielend schaute er zur Tür und wartete bis sie auf ging. Jetzt wusste er, dass sein Vater hereinkommen würde. Er konnte sein Gesicht also wieder in seinen kleinen Händen verbergen. Kein Wort würde er sagen. »Felix, dem Grossvater geht es jetzt gut. Er ist friedlich eingeschlafen«. Was sollte das heissen, ‚friedlich eingeschlafen’. Er würde nie wieder mit seinem Grossvater in die Werkstatt gehen können um ihm zuzusehen, wie er die Schuhe der Kunden reparierte. Was sollte daran friedlich sein. Als sein Vater die Hand auf seine Schulter legte schlug er sie einfach weg. Auch seine Eltern gehörten zu der Welt, die er bestrafen wollte für das was ihm angetan wurde. Sein Vater lies es geschehen ohne ein ernstes Wort zu sagen. Hätte Felix das sonst getan, so hätte sein Vater streng reagiert, aber heute lies er es einfach geschehen. Und plötzlich tat Felix seine grobe Geste gegenüber seinem Vater leid. Er verdrängte dieses Gefühl aber schnell wieder, denn ihm war Unrecht zugefügt worden. Man hat ihm seinen Grossvater genommen. »Aber warum ist er gestorben? «. Es brach einfach schluchzend aus ihm heraus. Mit einem Mal war sein Vater in seiner Welt und sie bestraften den Rest der Welt zusammen. Er fiel ihm um den Hals, weinte und war gleichzeitig erleichtert, dass er einen Verbündeten hatte um die Welt zu bestrafen. »Das ist normal Felix, wenn Menschen zu alt werden sterben sie«. »Neeeein« schluchzte er, wohl wissend, dass sein Vater Recht hatte.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Die Sonne hatte sich zurückgezogen und dem kalten Wind die Landschaft überlassen. Er sass am Fenster und starrte in die Dämmerung. Seine Gedanken gingen zurück zum letzten Besuch bei seinen Grosseltern. Er sah seinen Grossvater vor sich, wie er in seiner Werkstatt sass und die Unterseiten der Schuhe besohlte. Ab und zu kamen Kunden in die Werkstatt um ihre Schuhe abzuholen. Immer wieder musste sich Felix die gleichen Sprüche der Leute anhören. »Ist das Ihr kleiner Urenkel? Er kommt ganz nach dem Vater«. So ein Blödsinn, der nächste Kunde würde sowieso sagen, dass er ganz nach der Mutter käme. Er fand diese Leute langweilig, aber in der Werkstatt fand er immer etwas Interessantes mit dem er sich beschäftigen konnte.

Langsam traute er sich auch die Erinnerungen an den Vortag der Abreise bei ihrem letzten Besuch bei den Grosseltern zuzulassen. An diesem Tag hatte er die Werkzeuge seines Grossvaters wieder einmal versteckt. Als dieser es merkte rannte er ihm nach, doch Felix war wie immer schneller und im Wegrennen fühlte er sich wie Michel aus Lönneberga, der den Erwachsenen wieder einmal einen Streich gespielt hatte. »Warum machst Du mir das Leben nur immer so schwer« rief ihm sein Grossvater hinterher. Jetzt war der Gedanke, den er die ganze Zeit so gefürchtet hatte da. Was wäre gewesen, wenn er seinen Grossvater nicht immer so geärgert hätte. Würde er dann noch leben? Er versuchte sich abzulenken. In der Dämmerung draussen folgte er mit seinen Augen den Umrissen der Bäume. Er widmete sich jedem Detail der Strasse vor dem Haus nur um seine Gedanken in Schach zu halten als er ein erlösendes »Felix, Abendessen!« hörte.

Als sie zu dritt zusammen am Tisch sassen überkam Felix wieder ein Gefühl von Wut. Er durfte auch wütend sein für das was man ihm angetan hatte. Pampig warf er das Käsebrot, das er in der Hand hatte auf den Teller. Ungeschickter Weise rutschte es jedoch über den Rand und fiel kopfüber auf den Teppichboden. »Felix, jetzt reicht es aber. Ich verstehe ja, dass Du traurig bist, aber das geht zu weit. Heb das Brot auf und benimm Dich jetzt«. Felix war etwas erstaunt, denn vorher wurde sein Wutausbruch noch geduldet. Sollte jetzt etwa wieder langsam der Alltag einziehen? Die Worte seines Vaters waren unmissverständlich und insgeheim war er auch etwas erleichtert den Widerstand gegen die Welt aufgeben zu können.

Die nächsten zwei Tage waren schwer für Felix. Jede Nacht hatte er Alpträume. Aber er verbrachte viel Zeit mit seinen Eltern und musste tagsüber fast nie alleine sein. Nur abends vor dem Einschlafen suchten ihn wieder die Befürchtungen heim, dass seine Streiche doch etwas mit dem Tot seines Grossvaters zu tun hatten. Mittlerweile war es Montagabend. Seine Eltern hatten ihm eine Entschuldigung geschrieben, so dass er nicht in die Schule musste. Er sass wieder im Kinderzimmer an seinen Legosteinen und baute eine Schumacherwerkstatt ähnlich der seines Grossvaters. Wie immer, kurz vor der Tagesschau um 20:00, kam seine Mutter ins Zimmer und sagte dass es Zeit wäre ins Bett zu gehen. Ohne die üblichen fünf bis zehn Minuten herauszuschinden ging Felix ins Badezimmer, putzte sich die Zähne, zog seinen Schlafanzug an und ging ins Bett.

Die Werkstatt war in einem Anbau an dem Haus der Grosseltern untergebracht. An der Wand gegenüber dem Eingang hingen alle Werkzeuge, die sein Grossvater für seinen Beruf benötigte. Felix hatte schon von jeher eine Schwäche dafür aus dem Holz, den Nägeln, Klammern, den alten Schuhsolen und eben allem was er in der Werkstatt finden konnte, Kunstgestalten zu bauen. Er sass auf dem Boden und baute gerade ein Monster dessen Mund, weit aufgerissen, fast wie der umgedrehte Absatz einen Schuhes aussah. Er hörte das Klingeln der Eingangstür und sah eine alte Frau, die in die Werkstatt kam um offensichtlich ihre Schuhe abzuholen. Nun begann das übliche Spiel. »Ist das Ihr kleiner Urenkel? Er kommt ganz nach dem Vater«. Doch diesmal schien sich der sonst immer gleiche Ablauf geändert zu haben. »Meinen Sie nicht, dass er eher etwas von mir in sich hat?«. »Wieso meinen Sie?«. »Na er ist ein Lausbub wie ich es früher war. Ständig versteckt er mir meine Werkzeuge und ich renne ihm dann nach, wie das früher mein Vater mit mir Tat. Aber das ist schon gut so, denn diese Bewegung hält mich Jung«. Die Blicke von Felix und seinem Grossvater trafen sich und sie spürten beide eine Wärme, die sie verband.

Nach dieser Nacht träumte Felix nicht mehr schlecht.


~Baghira, Januar 2004

Keine Kommentare: