Donnerstag, 11. Januar 2007

Der Kuss

Heute hat die nachfolgende Geschichte ihren dritten Geburtstag, was für mich Grund genug ist, sie heute in meinen Blog zu stellen. Entstanden ist sie aus folgendem Experiment in einem Schweizer Literaturforum. Probiert das Experiment doch einfach mal aus und schildert mir, was Ihr empfunden habt. Ich habe ungefähr 5-7 Minuten für das Experiment gebraucht. Es hilft auch, wenn man die einzelnen Punkte mit einem Blatt Papier abdeckt und sich dann viel Zeit lässt um sich in die einzelnen Schritte hineinzuversetzen. Fühlt sie nach, geht darin auf und durchlebt die einzelnen Stufen des Experimentes mit all Euren Sinnen.


Zuerst einmal: Wer es machen möchte, von dem verlange ich ein wenig Fantasie. Wenn ihr die nicht aufbringen könnt, könnt ihr ganz schnell wieder diese seite hier verlassen und euch andere Werke durchlesen die nur von euch verlangen gelesen zu werden. Wenn ihr die Fantasie doch aufbringen wollt, dann arbeitet einfach die einzelnen Punkte ab, und lasst euch soviel Zeit wie eure Fantasie dazu braucht (die Betonung liegt auf "eure FANTASIE" nicht auf eurem Verstand oder so).


  1. Stell dir vor, ich würde dich küssen.

  2. Vergiss mein wahres Geschlecht, ich bin einfach ein Mensch, männlich oder weiblich – ganz wie du willst.

  3. Stell dir vor, ich bin der Mensch, den du von ganzem Herzen liebst.

  4. Stell dir vor, wie ich mich anfühle.

  5. Stell dir vor, wie meine Lippen schmecken.

  6. Stell dir vor, wie ich rieche.

  7. Und jetzt stell dir vor, dass man mir auferlegt hat, den Menschen zu küssen, den ich am Meisten hasse, verabscheue...

- Was fühlst Du?


Was fühlt Ihr? Mich hat der Kontrast zum Schluss ganz tief bewegt und als ich versucht habe zu verstehen und zu beschreiben, wie ich in diesem Moment gefühlt hatte, so konnte ich diesem Gefühl eigentlich nur durch diese Geschichte zu einem Körper verhelfen, der es erlaubte betrachtet zu werden.





Der Kuss


Er lag auf dem Rücken, weich gebettet mit seinen Armen auf dem Bauch verschränkt. Der Duft des Sommers war ihm noch in seiner Nase und lies ihn all die Gefühle und Erinnerungen spüren, die er mit dem vergangenen Sommer verband. Der Duft dieses Sommers war auch ein Synonym für Rebecca. Er war neu in der Schule und wie in all den anderen Schulen zuvor, die er besucht hatte, übernahm er freiwillig und wie aus einer inneren Bestimmung heraus, die Rolle des Aussenseiters. Doch diesmal war etwas anders. Er erinnerte sich an die Begegnung mit Rebecca in der ersten Schulstunde des neuen Jahres. Wie in Zeitlupe bewegte sich ihr Mund, als sie in der Pause mit ihm sprach. Was er damals selbst sagte wusste er nicht mehr. Er konnte sich nur noch an ihr Lächeln erinnern. Er erinnerte sich auch noch an ihren ersten Kuss. Drei Wochen nachdem er in die Klasse gekommen war begegneten sie sich auf ihrem täglichen Schulweg an der Bushaltestelle. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich auf dem Schulweg trafen. Diesmal spürte er jedoch, dass etwas ganz besonderes passieren sollte. Auf dem Rücksitz des Busses kamen sie sich näher und zum ersten Mal spürte er ihre Haut. Er spürte auch ihre innere Unruhe. War sie innerlich ebenfalls so aufgewühlt durch ihre Gefühle wie er selbst oder hatte das andere Gründe? Sie sassen eng nebeneinander und wie durch Zufall berührten sich ihre beiden Arme. War er wirklich verliebt in Rebecca? Er suchte ihre Augen um eine Antwort auf seine Frage zu erhalten und spürte den sanften Hauch aus ihrem Mund. Er schmeckte ihre Lippen und sog ihren sanften umwerfenden Duft durch seine Nase auf. Er liebte sie. Die Frage wurde zur Gewissheit. Viel zu schnell verging die Busfahrt, sie hätte noch ein ganzes Leben dauern können! An der Schulstation angelangt entlud sich wie auf einen Schlag Rebeccas innere Unruhe. Sie sprang auf, rannte zur Türe, die sich gerade öffnete und rief ihm zu „Reingefallen, Reingefallen. Du glaubst doch nicht, dass ich einen Aussenseiter wie Dich jemals freiwillig küssen würde. Die Wette habe ich gewonnen!“.Plötzlich war auch der Duft des Sommers verschwunden, den er eben noch so intensiv in seiner Nase gespürt hatte. Er war dem dumpfen Geräusch gewichen, welches die Erde hinterliess, die auf seinen Sarg herab prasselte.



1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

zum Experiment auf die Frage: "Was fühlt Ihr ?" :

erstmal prallt man zurück. Aber dann einfach:

Unglauben. Dieser Widerspruch ist für mich nicht vereinbar. Weil dann schon oben das "Küssen von jemandem, den ich liebe" nicht funktioniert hätte. Weil ich davon ausgehe, dass man sich so (wie ich es mir vorstelle) nur küsst, wenn man darin aufgeht, und das kann man niemandem auferlegen. Das ist ein Escher-Bild.